(An)gesehen werden – Wir spüren die Ambivalenz. Es ist nicht immer angenehm, (an)gesehen zu werden. Es erfordert Mut sich zu zeigen, Gesicht zu zeigen. Setzt es doch Antworten auf die Fragen „Wer bin ich?“, „Was ist mir wichtig?“, „Was soll man sehen?“ voraus. So manches von uns zeigen wir lieber nicht so gern – aus Angst und Unsicherheit heraus dem Blick des anderen nicht standzuhalten. Manche Schwächen und Schattenseiten behalten wir lieber für uns, verstecken und entziehen sie den Blicken der anderen. Und zugleich sehnen wir uns zutiefst danach (an)gesehen zu sein. Gesehen werden kann man auch übersetzen mit wahrgenommen werden. Von Geburt an braucht jeder Mensch dieses Wahrgenommen werden, den liebevollen Blick des anderen. Jeder Mensch will und braucht Beachtung und Wertschätzung. Doch das Leben lässt uns immer wieder auch erfahren, dass uns keiner sieht, wahrnimmt, dass wir nicht angesehen sind. Der Wind des Lebens weht uns kalt ins Gesicht, Lebenspläne scheitern, wir verrennen uns, müssen Niederlagen einstecken, wollen uns verstecken vor den Herausforderungen des Lebens, …
In der Bibel wird von einer Frau berichtet, die aus ihren Erfahrungen mit anderen weiß, was es bedeutet nicht gesehen zu werden, was es bedeutet, nicht angesehen zu werden, was es bedeutet als Person nicht beachtet zu werden: Hagar. Sie gibt Gott den Namen „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ (1. Mose 16, 13). In ihrer Aussichtslosigkeit darf sie plötzlich erkennen: Ich bin nicht verloren. Gott sieht mich.
Es wäre wunderbar, wenn auch wir spüren: „Du bist ein Gott, der mich sieht“ – wie diese Frau aus der Bibel. Gott sieht mich, ohne wenn und aber – bedingungslos. Auch wenn mich sonst keiner wahrnimmt, Gottes Blick trifft mich. Hier finde ich mein Ansehen. Und dieser Blick Gottes macht Mut. Mut etwas zu riskieren. Vielleicht einen neuen Blick auf mein Leben zu werfen, allen eingefleischten Sehgewohnheiten zum Trotz. Mein Leben aus einer neuen Perspektive betrachten, neue Wege beschreiten. Hin und wieder die rosarote Brille aufsetzen, wenn ich sonst nur grau trage. Gott sieht mich. Gott sieht uns. Er verliert uns nicht aus den Augen, was auch immer wir wagen wollen.
„Sehen“ hat viel mit Liebe zu tun. Die chilenische Dichterin Gabriela Mistral schrieb in einem Liebesgedicht: „Wenn du mich anblickst, werd ich schön…“ Eine Frau, die sich ihrer Selbst schämt, entdeckt durch den liebevollen Blick ihres Geliebten ihre eigene Schönheit. Es kommt auf den Blick an, mit dem wir angesehen werden. Liebende Augen erkennen den Anderen in all seiner Schönheit. Die Schönheit, unsere Würde garantieren wir uns nicht selbst. Wir sind die, als die wir angesehen werden. Und Gott schaut uns an – mit liebenden Augen. Er schaut uns an, nimmt uns wahr so wie wir sind. ER erkennt unser wahres Gesicht – mit unseren Lachfalten und unserem Glanz in den Augen, mit unseren Wunden und Verletzungen, mit allen unausgegorenen und unzulänglichen Gesichtszügen. Wir verdanken uns der Liebe des Blickes Gottes.
„Sehen“ hat auch viel mit Respekt zu tun. Denn „respectare“ heißt „zurückschauen“, also dem Blick eines anderen Menschen mit einem Blick auf Augenhöhe begegnen. Ich übersehe den anderen nicht oder schaue an ihm vorbei. Ich sehe ihn an. Mit Respekt.
„Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Gott erweist uns den Respekt des klaren, liebenden Blicks. Und als solche von Gott angesehenen Menschen sind wir unterwegs und können das Leben wagen, indem wir uns auch untereinander mit Liebe anschauen, Gesicht zeigen, einander wahrnehmen – mit Respekt – und so wirkliche Begegnung ermöglichen.